Key Art (Der Herr der Ringe: Gollum)

Als es 2019 erstmals angekündigt wurde, sorgte Der Herr der Ringe: Gollum sofort für hitzige Diskussionen unter den Tolkien-Fans. Dass sich der Titel auf den Ex-Hobbit mit dissoziativer Identitätsstörung konzentriert, wurde von der einen Seite kritisiert und von der anderen gefeiert.

Wir halten Daedalics Wahl des Protagonisten für sehr klug, denn keine andere Figur im Ring-Universum ist so einfältig in ihren Ambitionen und gleichzeitig so ambivalent in ihrer Persönlichkeit. Die Beziehung zwischen Smeagol und seinem verdrängten Alter Ego Gollum bietet viel Potenzial für spannende Konflikte; genau deshalb haben sich die Entwickler entschieden, die zwiegespaltene Figur in den Mittelpunkt der Erzählung zu stellen.

Im Vorfeld konnte man immer lesen, dass sich das Gameplay von Gollum aufs Schleichen konzentriert, aber bereits veröffentlichte Clips zeichnen ein vielfältigeres Bild. Klar: dass der schwachbrüstige Held auf Heimlichkeit setzt, ist eine logische Konsequenz – schließlich hätte er in einer direkten Konfrontation mit einem Ork keine Chance.

Mirkwood (Der Herr der Ringe: Gollum)

Gollum kann Gegner ablenken, ihnen Fallen stellen und sie hinterrücks erwürgen. Er schleicht durch hohes Gras, schaltet Lichtquellen aus, lockt mit einem Steinwurf Gegner fort. Allerdings muss er auch verschiedene Rätsel lösen und auf diesen Aspekt freuen wir uns besonders, denn Daedalic hat bereits mit zahlreichen Point-and-Click-Adventures bewiesen, dass sie die Könige der pfiffigen Kopfnüsse sind.

Akrobatische Ader

Es ist überraschend, dass der kleine Antiheld auch klettern, springen und an Wänden entlangrennen kann, da er in früheren Geschichten eher unsportlich erschien. Aber wenn es um die Wurst beziehungsweise um den Ring geht, muss man eben über seinen eigenen Schatten springen.

Zumal es optimal zur Stealth-Prämisse passt, schwer bewaffneten Gegnern aus dem Weg zu gehen, indem man sich an Klippen entlanghangelt oder die Wandbegrünung nutzt, um einen Abgrund zu überqueren. Auf jeden Fall turnt Gollum, trotz seines hohen Alters, mindestens so schwungvoll durch die Gegend wie Lara Croft oder Nathan Drake.

Artwork; Spiegelung (Der Herr der Ringe: Gollum)

Hin- und hergerissen

Die Entwickler des ambitionierten Titels haben sich große Mühe gegeben, die innere Zerrissenheit der Hauptfigur auch spielerisch umzusetzen. Im ausgemergelten Zwerg stecken zwei Persönlichkeiten, die ständig im Clinch liegen: einerseits der naive und friedvolle Smeagol und andererseits der egoistische und bösartige Gollum.

Ihr werdet immer wieder mit Entscheidungen konfrontiert, von denen einige gravierende Auswirkungen auf den weiteren Spielverlauf haben können. So will Gollum etwa einen Käfer töten, den er für einen Spion Saurons hält, doch Smeagol würde das Insekt lieber verschonen. Das Interessante daran ist, dass es oft keine richtige oder falsche Entscheidung gibt, denn wie im richtigen Leben sind viele Dinge nicht schwarz oder weiß, sondern liegen in der Grauzone dazwischen.

Der Herr der Ringe: Gollum ist vor allem ein von der Story getriebenes Erlebnis.

Nachdem ihr euch entschieden habt, müsst ihr eure Wahl der Gegenseite (Smeagol oder Gollum) mit Argumenten schmackhaft machen. Im Grunde geht es also darum, euch selbst davon zu überzeugen, dass die getroffene Wahl die richtige ist. Ein wahrhaft innovativer Gameplay-Kniff, der laut den Entwicklern das moralische Dilemma der Figur perfekt widerspiegelt und im Laufe des rund 25-stündigen Fantasy-Abenteuers immer wieder für unterschiedliche »Abzweigungen« sorgt.

Klettern (Der Herr der Ringe: Gollum)

Filmreife Geschichte

Vor allem aber ist Der Herr der Ringe: Gollum ein von der Story getriebenes Erlebnis. Das ergibt Sinn, wenn man bedenkt, dass es sich bei der Vorlage um die wahrscheinlich meistgelesene Fantasy-Geschichte aller Zeiten handelt.

Daedalic hat die Geschichte im Zeitraum zwischen Bilbos Flucht vor den Kobolden in Der Hobbit und dem Einzug der Gefährten in die Minen von Moria in Der Herr der Ringe angesiedelt. Ihr erfahrt also, was währenddessen mit Smeagol/Gollum geschehen ist.

Genial finden wir, dass nicht nur bekannte Helden wie Gandalf im Spiel auftauchen, sondern auch mysteriöse Schurken wie der Bote von Mordor a.k.a. Saurons Mund. Im Film war seine Visage unter einem Helm versteckt, aber im Spiel bekommen wir zum ersten Mal sein wahres Gesicht zu sehen. Wir verspüren eine schreckliche Vorfreude!

Artwork; Gollum (Der Herr der Ringe: Gollum)

Am 25. Mai 2023 ist Der Herr der Ringe: Gollum für PC, PlayStation 4, PlayStation 5, Xbox One und Xbox Series X|S erschienen. Eine Version für die Nintendo Switch soll zu einem späteren Zeitpunkt folgen.

Allen Widrigkeiten zum Trotz

Daedalic Entertainment, das deutsche Studio hinter Der Herr der Ringe: Gollum, hatte mindestens genauso viele Hürden zu überwinden wie der kleine Protagonist.

Es war ein langer, steiniger Weg, denn Studio-Gründer Carsten Fichtelmann hat bereits 2014 bei Middle-earth Enterprises angeklopft, um die Rechte zu erwerben. Er ließ nicht locker, auch wenn viele es lieber gesehen hätten, wenn das Spiel von einem großen US-Studio entwickelt worden wäre als von einem kleinen Team in Deutschland.

Mirkwood (Der Herr der Ringe: Gollum)

Dass es Fichtelmann dennoch gelang, sich die begehrte HdR-Lizenz zu sichern, zeugt von seiner Beharrlichkeit und dem unerschütterlichen Glauben an sein Team. Ein Coup, der das deutsche Studio in einen globalen Big Player verwandeln könnte, sofern die Verkaufszahlen stimmen. Verdient hätten sie es, schließlich mussten sie die Spielumsetzung einer der größten Entertainment-Marken aller Zeiten ganz ohne öffentliche Fördergelder stemmen.

Interessantes Detail am Rande: Im Jahr 2001 sollte die Kinowelt Medien AG Peter Jacksons Herr der Ringe-Trilogie in die deutschsprachigen Kinos bringen. Weil das Unternehmen in finanziellen Schwierigkeiten steckte, schloss New Line Cinema kurzfristig einen neuen Vertriebsvertrag mit Warner Bros. ab, sodass Kinowelt Insolvenz anmelden musste.

Dies war ein schwerer Schlag für die deutsche Unterhaltungsindustrie zu dieser Zeit; umso erfreulicher ist es, dass Fichtelmann und sein Team trotz der widrigen Umstände nie aufgegeben und die Lizenz nach Deutschland geholt haben.