Artwork; Kitsch (Cyberpunk 2077)

Ich hatte alles für den 17. September perfekt vorbereitet, denn CD Projekt Red kündigte den Release von Cyberpunk 2077 für meinen Geburtstag an. »Ich werde an meinem Ehrentag beruflich unterwegs sein und da muss ich leider das Handy ausschalten«, erzählte ich Freunden und Bekannten. Eine schamlose, aber notwendige Lüge. Wie sonst hätte ich Cyberpunk 2077 ungestört spielen können, ohne ständig von Gratulanten gestört zu werden?

Die Verschiebung auf November fühlte sich wie ein Dolchstoß mitten ins Herz an. Aus dem 19.11 wurde der 10.12 und ich war mir irgendwann sicher: Cyberpunk 2077 wird niemals erscheinen. Wahrscheinlich hatte sich CD Projekt Red mit dem Mammutprojekt gänzlich übernommen und den enormen Aufwand unterschätzt.

Dieses Szenario erinnerte mich an die Entwicklung von Duke Nukem Forever, dessen Ankündigung am 27. April 1997 auf der E3 für Jubel und Freudentränen sorgte. Über die Jahre folgten unzählige Verschiebungen und am schicksalsträchtigen 6. Mai 2009 die traurige Nachricht, dass 3D Realms die Entwicklung eingestellt hat. Überraschung: 2011 erblickte Duke Nukem Forever doch noch das Licht der Welt. Von der einstigen Shooter-Hoffnung blieb nach 14 Jahren aber nur noch eine spielerisch und technisch altbackene Lachnummer übrig.

Zurück zu Cyberpunk 2077, das am 6. Dezember immer noch wie geplant in den Startlöchern stand. Sollte es tatsächlich am 10.12 erscheinen? Da bereits einige große Redaktionen, Leaker und Influencer mit dem Durchspielen der Testversion beschäftigt waren, verflog meine Paranoia. Der PR-Heini von CD Projekt Red versicherte mir höchstpersönlich, dass Cyberpunk 2077 wie geplant auf den Markt kommen wird.

Pause (Cyberpunk 2077)

Mit Herzklopfen installierte ich kurze Zeit später die PC-Version auf einer fetten Kiste mit 32 GB RAM und GeForce RTX 3090, denn ich wollte Cyberpunk 2077 in voller Pracht genießen.

Next Generation Gaming

Die ersten Minuten haben mich förmlich weggeblasen, denn in audiovisueller Hinsicht ist Cyberpunk 2077 einfach Next Level. Bereits der Charakter-Editor punktet mit einem erstaunlichen Detailgrad, der (ähnlich wie das Survival-MMO Conan Exiles) sogar die Penis-Größe berücksichtigt. Natürlich könnt ihr auf den Wurmfortsatz verzichten oder das Abenteuer als Heldin bestreiten.

Es ist ein Vorgeschmack auf die spielerische Freiheit, die organischer und weniger formularisch wirkt als bei Titeln wie Fallout, Mass Effect oder Deus Ex. In Cyberpunk 2077 sind die unterschiedlichen Optionen und »Weggabelungen« weniger offensichtlich.

Als Söldner, der in eine dunkle Verschwörung hineingezogen wird, trefft ihr auf jede Menge zwielichtiger Gestalten und deren Absichten sind nicht immer klar zu erkennen. Selbst unscheinbare Entscheidungen oder Handlungen können gravierende Ereignisse in Gang setzen und ihr euch nie sicher sein, wer es wirklich gut mit euch meint.

Night City forever

Zu Beginn entscheidet ihr euch für einen von drei Pfaden: Nomad, Street Kid oder Corpo. Dabei handelt es sich um keine Charakterklassen, sondern um sogenannte »Lebenspfade«, welche einzigartige Dialogoptionen, Herausforderungen und Missionsperspektiven bieten. Nomads sind sozusagen die Badland-Experten mit Benzin im Blut. Corpos kennen die Welt der Mega-Konzerne wie ihre Westentasche, während Street Kids die Gesetze der Straße verinnerlicht haben.

Johnny Silverhand (Cyberpunk 2077)

Der Lebenspfad ist für die Entwicklung eurer Fähigkeiten aber nicht von maßgeblicher Bedeutung, denn beim Skill-System setzt Cyberpunk 2077 auf Learning by Doing. Wer heimlich Gegner von hinten ausschaltet, erhöht seinen Stealth-Level und der Einsatz von Pistolen steigert wiederum eure Handfeuerwaffen-Fähigkeit. Ist ein gewisses Skill-Level erreicht, wird man mit Perk-Punkten belohnt, die sich nach Belieben investieren lassen.

Cyberpunk 2077 spielt hauptsächlich in der Metropole Night City. Die Spielwelt ist gar nicht mal so groß, aber dafür sehr dicht besiedelt und vollgepackt mit interessanten Aktivitäten. Das mehrstöckige Design der Stadt erinnert an den Filmklassiker Blade Runner und bildet einen schönen Kontrast zum wüstenartigen Ödland außerhalb der Stadtmauern.

Zwar lassen sich die meisten Gebäude nicht betreten und auch das Gros der Passanten spaziert eher planlos durch die Straßen, dennoch wirkt die Welt lebendiger als jede andere Open-World-Kulisse. Immer wieder stolpert man über Dinge, die aus der Masse hervorstechen. Bei euren Spaziergängen erlebt ihr Nachbarschaftsstreits, verwirrte Demagogen, wütende Demonstranten, Überfälle auf Händler, Polizeikontrollen und vieles mehr. Man ist Teil des Geschehens und fühlt sich weniger als ein Fremdkörper.

Kein »GTA« in der Zukunft

In den vergangenen Monaten und Jahren wurde Cyberpunk 2077 häufig als »Sci-Fi-GTA« bezeichnet, doch in Wirklichkeit könnten die Unterschiede nicht größer sein. CD Projekt Red hat kein Ballerspiel, sondern ein futuristisches First-Person-RPG entwickelt und das Gameplay sehr smart mit der Story verknüpft.

Während man in GTA immer wieder mit Zwischensequenzen konfrontiert wird, die uns zu bloßen Zuschauern degradieren, gestalten wir die Geschichte von Cyberpunk 2077 meist aktiv mit. Auch in den Story-Sequenzen wird die Ego-Perspektive nicht verlassen, um das intensive Mittendringefühl zu bewahren.

Lucky number 13 (Cyberpunk 2077)

Besonders beeindruckend ist der dynamische Verlauf der Geschichte, der eure Handlungen und Entscheidungen nicht nur mit angepassten Dialogoptionen oder Missionsverläufen, sondern auch mit unterschiedlichen Enden quittiert. Das erhöht die Spannung und steigert natürlich auch den Wiederspielwert enorm.

Manche Kollegen bemängeln, dass sich die Handlungen des Spielers nicht auf die Beziehungen zu den unterschiedlichen Fraktionen auswirken. Es macht also keinen Unterschied, ob ihr ständig Mitglieder einer bestimmten Gruppierung tötet oder nicht. Ihr könnt es euch im Laufe eurer Karriere zwar mit bestimmten Schlüsselfiguren verscherzen, aber ein richtiges Fraktionssystem gibt es nicht.

Stattdessen bietet Cyberpunk 2077 ein sogenanntes »Street Cred«-System, das euer Ansehen auf der Straße widerspiegelt. Je höher die Street Credibility, desto lohnenswerter die Aufträge, die sich an Land ziehen lassen. Auch die Preise der Straßenhändler werden dadurch beeinflusst.

Just do it

Auch wenn es keine Minispiele gibt wie in der GTA- oder Yakuza-Serie, fällt das Gameplay sehr abwechslungsreich aus. Es macht eben einen großen Unterschied, ob man eine Mission mit dicker Panzerung und zielsuchender Wumme oder als hackender Heimlichtuer erledigt.

Ihr könnt in einen Raum stürmen und alle Gegner mit einem Fleischerbeil zerteilen oder die Sicherheitssysteme hacken, um Chaos zu verursachen und eure Mission ungestört fortzuführen. Ihr könnt Wachen lautlos von hinten ausschalten und in Mülltonnen entsorgen oder mit einem Burnout-Hack ihr Gehirn grillen.

Allein schon die Waffenauswahl ermöglicht extrem unterschiedliche Herangehensweisen, doch das Augmentieren mit Cyber-Implantaten treibt es auf die Spitze. Ich kann ohne Übertreibung behaupten, dass man als kybernetische Tötungsmaschine mit Unterarmklingen ein erfülltes Dasein führen kann.

Wer sich stur an die Hauptmissionen klammert, dürfte den Abspann (je nach Schwierigkeitsgrad) in etwa 20–25 Stunden erreichen. Herumzustreunen lohnt sich aber, denn viele der Nebenaufgaben sind auf einzigartige Weise mit der Hauptgeschichte verknüpft. Ich will nicht zu viel verraten, aber häufig stehen Side-Quests mit wichtigen Charakteren in Verbindung und diese Verbindungen wirken sich auf die Optionsvielfalt aus, die sich im Handlungsverlauf offenbart. Gerade im letzten Drittel von Cyberpunk 2077 wird das sehr deutlich.

Ich könnte einen kompletten Roman über dieses Spiel schreiben, denn es perfektioniert die Kunst des interaktiven Storytellings.

Fazit: Ich habe versucht, die vielen Dinge hervorzuheben, welche Cyberpunk 2077 so besonders machen, doch im Endeffekt kratzt mein Text nur an der Oberfläche. Ich könnte einen kompletten Roman über dieses Spiel schreiben, denn es perfektioniert die Kunst des interaktiven Storytellings. In der Hinsicht steht es sogar auf einer Stufe mit The Last of Us 2, aber auch spielerisch ist Cyberpunk 2077 ein Meilenstein. Es bietet sehr viele Freiheiten, ohne den Spieler zu überfordern und trotz der zahlreichen Möglichkeiten hat man immer den roten Faden im Blick.

Die Präsentation ist ebenfalls über jeden Zweifel erhaben. Weniger schön fand ich die schwebenden Gegenstände, die mir ständig begegneten. Bierflaschen, Waffen und Kisten, zum Beispiel, aber auch Figuren und Fahrzeuge, die sich einfach in Luft auflösen.

Cyberpunk 2077 ist seit dem 10. Dezember 2020 für PC, PlayStation 4 und Xbox One erhältlich. Das Upgrade für PlayStation 5 und Xbox Series X|S folgt 2021.