Key Art (Watch Dogs: Legion)

Als Ubisoft auf der E3 2012 in Los Angeles den neuen Open-World-Titel Watch Dogs erstmals mit einem Trailer der Gaming-Öffentlichkeit präsentierte, standen Spielern weltweit die Münder offen. Als eine neue IP, mit der niemand gerechnet hatte, eroberte Watch Dogs die Herzen der Gaming-Community im Sturm. Doch so schnell der Stern des Ubisoft-Flaggschiffs am Horizont emporgestiegen war, so schnell sank er dann auch wieder, als Fans bemerkten, dass der E3-Trailer sie beschummelt hatte. Watch Dogs sah bei Release nämlich längst nicht so hübsch aus wie in besagtem Teaser. Außerdem fühlten sich die Spielmechaniken weniger revolutionär an, als sich manch ein gehypter Gamer erhofft hatte. Der Nachfolger Watch Dogs 2 lief deshalb etwas unter dem Radar – auch wenn Ubisoft hier mit einem bunteren Szenario und sympathischeren Helden versuchte, Boden gut zu machen.

Watch Dogs: Legion, der dritte Teil der Serie, soll es jetzt richten. Ubisoft scheut sich auch diesmal nicht, das Spiel mit Superlativen zu bewerben. Die Prämisse, dass wir jeden – und zwar wirklich – jeden NPC rekrutieren und selbst spielen dürfen, der durch das dystopische London streift, aus dem sich die Spielwelt zusammensetzt, klingt fast zu gut, um wahr zu sein. Gut, bis zum Release von Watch Dogs: Legion ist es noch ein Weilchen hin. Bislang hat Ubisoft lediglich nicht spielbare Demos des Titels gezeigt, unter anderem auf der gamescom 2019 in Köln.

Ich habe mir diese Demo angeschaut. Mein Fazit: Ich bin positiv überrascht – und bleibe, basierend auf meinen Erfahrungen mit Watch Dogs (1), trotzdem weiterhin skeptisch. Warum das so ist, erkläre ich euch jetzt.

Mann surft auf Drohne (Watch Dogs: Legion)

Quantität vor Qualität?

Widmen wir uns zunächst einmal der zentralen Prämisse von Watch Dogs: Legion: Wir dürfen jeden NPC rekrutieren und spielen. Ubisoft verspricht, dass alle diese Bewohner Londons eine individuelle Hintergrundgeschichte sowie ein eigenes Skill- und Perkset besitzen. Das klingt auf den ersten Blick wie eine Neuerung, auf die die Gaming-Welt gewartet hat. Ich muss zugeben, dass ich den Entwicklern diese Aussage zuerst nicht ganz abkaufen wollte.

Trotzdem hat mich die gamescom-Demo eines Besseren belehrt, zumindest teilweise: Tatsächlich besitzen die gezeigten Charaktere alle eine eigene Story. Zwar hat Ubisoft bisher erst einen kleinen Teil des Spiels gezeigt, trotzdem kaufe ich es den Entwicklern ab, dass sie die Leistung vollbringen, jeden NPC eigenständig zu gestalten. Die einzige Einschränkung betrifft die Fähigkeiten: Insgesamt existieren in Watch Dogs: Legion drei unterschiedliche Klassen, denen die NPCs angehören können. Auf diese Weise dämpft Ubisoft das Permadeath-System ab, weil wir dann eben einen neuen Charakter mit entsprechenden Skills hochleveln, wenn der alte stirbt. Außerdem schränkt dieses Vorgehen den ansonsten astronomischen Aufwand bei der Entwicklung der Skilltrees ein.

Allerdings stimmt mich eine Sache doch skeptisch: Wir kennen das Problem von Open-World-Spielen, die eine riesige Spielwelt versprechen, größer als alles bisher Dagewesene, der Vorgänger und so weiter. Wenn Watch Dogs: Legion jetzt individuelle Hintergrundgeschichten für jeden NPC bietet, stehen wir vor demselben potenziellen Dilemma: Kommt hier vielleicht ebenfalls Quantität vor Qualität? Mir stellt sich die Frage, ob die Entwickler überhaupt ein hohes Niveau bei der Story insgesamt sowie bei den einzelnen Charakteren in der Spielwelt garantieren können, wenn ich wirklich zwischen Hunderten unterschiedlicher NPCs wählen kann.

Personenkontrolle (Watch Dogs: Legion)

Ähnlich wie bei Watch Dogs (1) wird mich das Spielprinzip sicher anfänglich begeistern.

Hundertmal alter Wein in neuen Schläuchen?

Damit wären wir auch schon beim nächsten Punkt, nämlich der Frage, ob sich das zentrale Alleinstellungsmerkmal von Watch Dogs: Legion nicht irgendwann abnutzt. Ich fand es in Watch Dogs (1) zu Anfang unheimlich cool, die ganzen Hacking-Optionen auszuprobieren. Nachdem ich dann aber festgestellt habe, dass das Grundgerüst des Spiels eben doch »nur« der Ubisoft-Formel entspricht, war der Anfangszauber schnell verflogen – auch wenn ich zugegebenermaßen trotzdem noch Spaß mit dem ersten Teil der Reihe hatte.

Ein ähnliches Schicksal könnte auch Watch Dogs: Legion ereilen: Ähnlich wie bei Watch Dogs (1) wird mich das Spielprinzip sicher anfänglich begeistern. Aber ich bin mir nicht sicher, ob das Ganze nicht irgendwann in Routine ausartet oder gar lästig wird. Macht es mir nach dem zehnten rekrutierten Charakter noch Spaß, eine weitere – potenziell mittelmäßig geschriebene – Hintergrundstory zu erfahren und einen NPC davon zu überzeugen, sich DedSec anzuschließen?

Politisch? Wir doch nicht!

Was meine Hoffnung auf durchweg interessante und immer wieder motivierende, überraschende Geschichten zusätzlich trübt, ist Ubisofts schwammige Haltung zu politischen Themen. Zwar soll Watch Dogs: Legion in einem Post-Brexit-London spielen, dystopische Zukunft und Überwachungswahn inklusive.

Ich glaube, dass Ubisoft der Mut fehlt, das Story-Potenzial von Watch Dogs: Legion voll auszuschöpfen.

Dennoch betont Ubisoft, dass man sich mit Watch Dogs: Legion in der Brexit-Debatte nicht positionieren wolle. Überwachung ist böse – damit kann sich vermutlich die gesamte Zielgruppe des Spiels anfreunden. Alles andere bleibt außen vor. Die Entwickler gehen also den mit Far Cry 5 bereits beschrittenen Weg weiter, der weder Fisch noch Fleisch ist: Irgendwie und irgendwo macht man sich über alles ein bisschen lustig, will aber auch niemanden beleidigen oder verärgern – und setzt sich auf diese Weise letztlich zwischen die Stühle.

Gerade deshalb halte ich mich aktuell noch zurück, was meine Begeisterung für Watch Dogs: Legion angeht. Ich befürchte, dass die Hintergrundgeschichten der verschiedenen NPCs zu großen Teilen kritische gesellschaftliche und politische Themen marginal anreißen, sie aber nicht zu Ende ausexzerzieren. Ich glaube, dass Ubisoft der Mut fehlt, das Story-Potenzial von Watch Dogs: Legion voll auszuschöpfen. Aber leider gehört Ubisoft zu den größten Spielefirmen weltweit – und hat als börsennotiertes Unternehmen andere Prioritäten.

Watch Dogs: Legion soll am 6. März 2020 für Google Stadia, PC, PlayStation 4 und Xbox One erscheinen.