Bewertungssystem
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Erinnert ihr euch? Als das Internet seinen Siegeszug antrat, hielt man die Kundenrezension für das ultimative Bewertungssystem. Heute wissen wir, dass man diesen nicht trauen kann, weil es etliche Dienstleister gibt, die positive Kundenbewertungen en gros verkaufen. Davon abgesehen, gibt es sehr viele Idioten, die eine Wertung verfälschen können. Das geht beim Shitstorm-Trooper los, der Produkte abstraft, weil er das Unternehmen dahinter unsympathisch findet. Bei Amazon werden Produkte häufig negativ bewertet, weil der Versand länger dauerte als angegeben. Aktuell ist Review Bombing vor allem bei Spielen beliebt, die exklusiv über den Epic Game Store erscheinen.

Interessant ist, dass im Spielebereich die Kundenbewertungen nicht selten von »professionellen« Review-Scores abweichen. Bei Sekiro für PS4 liegt der Metascore bei hervorragenden 90, während der User Score nur 7.9 beträgt. Die PS4-Version von Apex Legends hat einen Metascore von 89 und einen User Score von 6.8. Bei Mortal Kombat 11 ist der Unterschied besonders heftig: 83 Metascore stehen 2.7 User Score gegenüber. Die Gründe dafür sind vielfältig und nicht immer nachvollziehbar. Im Fall von MK11 sind die Spieler angefressen, weil der Titel im Endeffekt eine große Lootbox darstellt. Ein besonders aktuelles Beispiel ist Sonys Exklusivtitel Days Gone, wobei die User-Bewertungen hier höher ausfallen als die professionellen Review-Scores. Bei reddit häufen sich Beiträge von Spielern, die den niedrigen Bewertungsdurchschnitt nicht nachvollziehen können. Tatsächlich gehöre auch ich zu den Leuten, die Days Gone richtig geil finden, während zum Beispiel ign.com nur 6,5 von 10 vergibt.

Die Geschmäcker sind eben verschieden

Muss man einfach akzeptieren, dass die Geschmäcker verschieden sind und ein Test nicht jede Meinung auf diesem Planeten widerspiegeln kann? Vielleicht sollte ich jemanden fragen, der für sowohl für Spiele-Publisher als auch für Videospiel-Magazine gearbeitet hat. Ich war schließlich immer nur auf der Presse-Seite unterwegs und kann das Phänomen nur von einer Seite betrachten. Also habe ich den abgehalfterten Ex-Journalisten Fabian Döhla angetextet. Aktuell ist er als Studio Communications Manager für CD Projekt Red tätig und bereitet sich auf die baldige Veröffentlichung von Cyberpunk 2077 vor. Wenn so etwas wie ein perfektes Wertungssystem existiert, müsste er es eigentlich kennen, schließlich stand er im Laufe seines traurigen Daseins mit Redaktionen auf der ganzen Welt in Verbindung.

Seine kurze Antwort: »Nein, gibt es nicht.«

Ganz klar: Religion, Standort und Nationalität des Testers haben Einfluss auf die Meinungsbildung

Ich wollte das nicht akzeptieren, denn wenn es so viele unterschiedliche Faktoren gibt, die eine Wertung beeinflussen können, dann müssen sich diese doch irgendwie als Bemessungsgrundlage einsetzen lassen! Zumal es offensichtlich auch regionale Unterschiede gibt. Beispielsweise hat das deutsche Rollenspiel Elex bei der deutschen Publikation GameStar sehr gute 85 % abgeräumt. Die PC Games gab sich mit 77 % etwas zurückhaltender und je weiter man sich geografischer entfernt, desto mieser die Wertungen. Den US-Kollegen bei IGN war das deutsche Qualitätsprodukt Elex nur noch 49 % wert. Auch Anno 1800 wird von heimischen Redaktionen gefeiert (GameStar 89 %, 4Players 88 %), doch hinter dem Großen Teich zücken GameSpot, PCWorld und Co nur 70 %. Ganz klar: Religion, Standort und Nationalität des Testers haben Einfluss auf die Meinungsbildung.

Key Art (Anno 1800)

Die Macht der Schwarmintelligenz

Neben Fabian Döhla, habe ich natürlich weitere Branchen-Insider belästigt, aber tatsächlich gaben mir alle dieselbe unbefriedigende Antwort. Ich war frustriert, also blieb mir nichts anderes übrig, als Twitter zu konsultieren.

52 Existiert nicht
26 Prozentwertung
17 Fazit-Satz
5 Schulnotensystem

Mehr als die Hälfte der 127 Teilnehmer sind der Meinung, dass ein perfektes Bewertungssystem nicht existiert. Fast noch schlimmer finde ich aber, dass immerhin 26 % der Beteiligten die klassische Prozent-Wertung für die optimale Lösung halten. Ich fand diese schon vor 20 Jahren schrecklich. Mein erstes veröffentlichtes Review widmete sich SEGAs House of the Dead 2 für Dreamcast. Ich brütete stundenlang über der Frage, ob ich 93 % oder 94 % vergeben soll. Sonic Adventure hatte von den Dreamcast.net-Kollegen 95 % bekommen und Soul Calibur sogar 97 %. Ich hätte HotD2 am liebsten 100 % gegeben, aber Soul Calibur war objektiv betrachtet deutlich besser und irgendwie raffinierter. Am Ende gab es 94 % und alle waren zufrieden. Drei Prozent mehr oder weniger hätten wahrscheinlich auch keine Sau gejuckt.

Existiert das perfekte Bewertungssystem wirklich nicht? Am Ende meines Lateins angekommen, wendete ich mich an einen befreundeten Philosophen. Da Rainer nichts mit Gaming am Hut hat und einen Image-Verlust fürchtet, musste ich ihm versprechen, seinen Nachnamen nicht zu verraten.

Eine fremde Meinung kann höchstens als Indikator oder Anhaltspunkt dienen

Rainer: »Nichts ist ausschließlich gut oder nur schlecht und 1.000 Menschen haben 1.000 Meinungen. Kunst erlaubt keine objektive Bewertung – schon gar nicht unter Zuhilfenahme der Mathematik. Ganz gleich, ob es sich um ein Gemälde, Klavierkonzert oder Computerspiel handelt. Hier spielt auch der Kontext eine große Rolle und wie willst du diesen Kontext in Zahlen abbilden? Deshalb lehne ich bereits den Begriff ›Bewertung‹ in diesem Zusammenhang kategorisch ab, denn letztlich stellt selbst die ausführlichste Rezension von Kunst nur eine Meinung unter vielen dar. Ob ich diese Meinung ernst nehmen kann, steht wiederum auf einem anderen Blatt. Stell dir vor, der Papst würde William Friedkins Film Der Exorzist bewerten. Wäre er als Kirchenoberhaupt besonders qualifiziert oder total ungeeignet für eine Rezension dieses umstrittenen Werks?«

Ahmet: »Dann fasse ich mal zusammen: Das ultimative Bewertungssystem gibt es nicht, weil hinter jeder Bewertung einfach nur eine Person steckt, die ihre Meinung kundtut. Diese Meinung wird wiederum von diversen Faktoren beeinflusst, die sich nicht beziffern oder kategorisieren lassen.«

Rainer: »Nicht ganz, denn kategorisieren lassen sich Meinungen oder meinungsbildende Faktoren durchaus. Vor allem, wenn ich die Person hinter der Meinung kenne. Wir beide sind befreundet und mir sind deine Vorlieben und Abneigungen bekannt. Das macht dein Urteil für mich viel aussagekräftiger und damit wären wir wieder beim Kontext angelangt.«

Ahmet: »Ich soll also nur Meinungen meiner Freunde berücksichtigen? Die meisten meiner Freunde haben keine Ahnung und keinen Geschmack! Wenn die mir ein Produkt empfehlen, dann hat das eher eine abschreckende Wirkung.«

Rainer: »So eine Anti-Empfehlung kann genauso hilfreich sein und langsam kommst du der Lösung näher. Welchem Urteil würdest du denn bedingungslos vertrauen?«

Ahmet: »Meinem eigenen?«

Rainer: »Bingo!«

Das perfekte Bewertungssystem existiert also doch. Es ist der eigene Verstand, auch wenn es nur den wenigstens Menschen da draußen bewusst ist. Eine fremde Meinung kann höchstens als Indikator oder Anhaltspunkt dienen und selbst wenn Millionen von Menschen ein Produkt gut finden, muss es mir noch lange nicht gefallen. Ihr sehr das anders? Sehr gut! Das bedeutet nämlich, dass ihr es kapiert habt.