
Andächtig lasse ich meinen Blick über die grünen Hügel nahe des beschaulichen Örtchens Valentine schweifen. Links von mir gehen die Bauern auf den Feldern ihrer Arbeit nach, zu meiner Rechten spielen Wildpferde an einem idyllischen Bach.
Red Dead Redemption 2 gelingt, was nur wenige Open World-Spiele schaffen: Normalerweise müssen wir uns für eine gelungene Welt oder eine spannende Geschichte entscheiden, doch der Western von Entwickler Rockstar Games punktet mit einer einzigartigen Spielwelt und einer packenden Story.
Dabei erzählt das Abenteuer die Vorgeschichte zum legendären Red Dead Redemption, welches vor nunmehr acht Jahren die Spielelandschaft entscheidend geprägt hat. Der zweite Teil ist im Wilden Westen des Jahres 1899 angesiedelt, also knapp 12 Jahre vor den Ereignissen des gefeierten Vorgängers.
Doch die Zeiten für Outlaws und Banditen scheinen gezählt. Red Dead Redemption 2 erzählt auf unnachahmliche Weise die Geschichte der letzten Ikonen eines sterbenden Zeitalters. Das Gesetz ist auf dem Vormarsch und stellt Protagonist Arthur Morgan und seinen Kollegen der van der Linde-Gang vor einige Probleme.

Die Handlung des Spiels präsentiert sich deutlich erwachsener, als wir es normalerweise von Rockstar Games gewohnt sind. Die typischen satirischen Grundton eines GTA 5 dürfen wir nicht erwarten, vielmehr versucht der Titel, den Wilden Westen möglichst authentisch auf den Bildschirm zu bannen und das gelingt Red Dead Redemption 2 so gut, wie keinem Spiel zuvor.
Ein letzter Ritt
Red Dead Redemption 2 beginnt mit einem Raubüberfall auf die Stadt Blackwater, der gehörig schiefgeht. Dezimiert und gejagt flüchtet sich die Gang um unseren Helden in die eisigen Grizzlie Berge um sich zu sammeln und neue Kräfte zu tanken.
Vielmehr wollen wir von der spannenden Story allerdings nicht verraten, nur so viel: Das Spiel punktet mit einer unglaublich emotionalen Handlung, die von der ersten Minute bis zum packenden Finale Vollgas gibt und dabei mit zahlreichen überraschenden Wendungen aufwartet. Doch nicht nur die Geschichte von Red Dead Redemption 2 gehört zum Besten, was wir jemals gespielt haben, auch bei den Charakteren haben sich die Entwickler wieder einmal selbst übertroffen.
Da wäre zum Beispiel der charismatische Anführer Dutch van der Linde, der eine Art Ziehvater für unseren Protagonisten darstellt. Dutch ist der geborene Anführer, der mit seinem Charme andere Figuren spielerisch um den Finger wickelt, das Wohl seiner Gang dabei allerdings über alles stellt und nicht davor zurückschreckt, über Leichen zu gehen.

Nicht nur die Geschichte gehört zum Besten, was wir jemals gespielt haben, auch bei den Charakteren haben sich die Entwickler wieder einmal selbst übertroffen.
Auf der anderen Seite ein sympathischer Lenny Summers, mit dem man im Saloon eine Menge Spaß haben kann oder der komplett durchgeknallte Micah Bell. Ausnahmslos alle Charaktere sind enorm stark geschrieben und machen im Laufe der knapp 60-stündigen Handlung aufgrund unerwarteter Ereignisse eine glaubhafte Wandlung durch.
Das gilt natürlich auch für Arthur Morgan, der im Vergleich zu John Marston aus dem Vorgänger – der natürlich ebenfalls Mitglied unserer Gang ist – zu Beginn eher wie ein lammfrommer Farmarbeiter wirkt, als wie skrupelloser Outlaw. Doch der Schein trügt, wie wir im Laufe der Handlung feststellen werden.
Die herausragende Qualität der Charaktere ist allerdings nicht nur auf die Hauptfiguren beschränkt, sondern trifft auch auf scheinbar unwichtige Nebenfiguren zu, die wir auf unserem Wild-West-Abenteuer regelmäßig treffen.
Besonders beeindruckend, wie geschickt die Entwickler die die Veränderung der Charaktere voranbringen. Denn statt uns einfach eine Biografie vorzusetzen oder uns diese Veränderung aufzuzwingen, stoßen wir beim Spielen selbst auf immer neue Hinweise, die uns zum Nachdenken anregen, bevor sich das große Ganze langsam offenbart.




Meine Welt, meine Geschichte
Spielerische Freiheit lautet das Zauberwort für Red Dead Redemption 2. Spielerische Freiheit, wie wir sie in kaum einem anderen Spiel zuvor erlebt haben. Trotz Open World-Ansatz liegt der Fokus allerdings gerade zu Beginn stark auf der Handlung. Der Titel nimmt sich die Zeit, uns behutsam mit seinen Charakteren und Spielmechaniken vertraut zu machen. Gerade das erste Kapitel spielt sich erstaunlich linear und es dauert eine Weile, bis man uns in die Prärie entlässt.
Dadurch spielen sich gerade die ersten Stunden etwas zäh. Doch spätestens, sobald wir das eisige Gebirge verlassen, nimmt das Spiel so richtig Fahrt auf. Genretypisch liegt es natürlich ganz bei uns, was wir in dieser beeindruckenden Abbildung des Wilden Westens erleben möchten.
Red Dead Redemption 2 steckt voller herausragend inszenierter Nebenmissionen, Beschäftigungen und spannender Geheimnisse, die uns gut und gerne 100 Stunden und mehr beschäftigen. Dabei schreckt das Spiel auch nicht davor zurück, zur richtigen Zeit das Tempo zu drosseln und uns einen der vielen Gänsehautmomente genießen zu lassen.

Natürlich ist es dabei ganz alleine uns überlassen, wie unsere Spielfigur auf die Welt reagiert. Wir können den brutalen Gesetzlosen mimen und Läden überfallen, Postkutschen ausrauben oder alles und jeden mit unserem Revolver erledigen. Mit prallgefüllten Taschen dürfen wir dann nach Lust und Laune in Gemischtwarenläden oder beim Büchsenmacher auf Shoppingtour gehen.
Geld ist in Red Dead Redemption 2 Mangelware. Besonders da unsere Gang immer wieder herbe Rückschläge in Kauf nehmen muss, wirkt der Ansatz als skrupelloser Outlaw geradezu verlockend. Doch unsere Handlungen haben nicht nur Auswirkungen auf unseren Geldbeutel: Unsere Taten sprechen sich herum, für Verbrechen schicken uns die Sheriffs Kopfgeldjäger auf den Hals und so kann es passieren, dass die Bewohner von Rhodes vor Schreck fliehen oder die Straßenseite wechseln, sobald wir mit unserem getreuen Ross die Stadtgrenze erreichen.
Wir haben uns jedoch für den guten Ansatz entschieden, einer jungen Witwe beim Jagen geholfen, entflohene Sträflinge für den Sheriff eingefangen und sogar einem Fremden das Gift einer Schlange ausgesaugt. Reich werden wir damit zwar nicht, allerdings können wir nachts besser schlafen – naja, meistens jedenfalls.
Wie wir auf die Welt um uns herum reagieren, hat in Red Dead Redemption 2 enorme Auswirkungen auf die Spielerfahrung. Zurück zu dem netten Herren mit dem Schlangenbiss, dem wir das Leben gerettet haben: Würden wir ihn einfach seinem Schicksal überlassen, hätten wir ein paar wertvolle Dollar und vielleicht sogar eine goldene Taschenuhr ergattert. So bleibt allerdings nicht viel mehr, als ein einfaches Dankeschön für unsere Mühen. Umso erstaunter waren wir, dass wir den Kollegen einige Stunden später im nächsten Ort wiedertreffen und er uns zum Dank eine Waffe unserer Wahl schenkt. Beeindruckend.

Open World neu definiert
Open World-Spiele gibt es wie Sand am Meer. Doch Red Dead Redemption 2 wagt einen einzigartigen Ansatz, der das Spiel so besonders macht. Waren wir im ersten Teil fast ausschließlich in der staubigen Prärie unterwegs, wartet der Nachfolger mit einer enorm abwechslungsreichen und lebendigen Kulisse auf, bei der uns gleich mehrfach die Kinnlade herunterklappt.
Knapp 200 Tierarten bevölkern die gigantische Welt, die allesamt ihrem eigenen Ökosystem folgen. Von schneebedeckten Bergen über die malerischen Wälder in der Nähe von Strawberry bis hin zum lebendigen Saint Denis, welches an die Südstaatenmetropole New Orleans angelegt ist, wartet das Spiel mit einer unglaublichen Vielfalt auf.
Was wir darin erkunden wollen und wie weit wir dabei ins Detail gehen, überlässt der Titel uns. Spielerisch setzt das Game auf ein eher gemächliches Tempo und selbst unsere Bewegungen wirken schwerfälliger, als wir es von anderen Spielen gewohnt sind. Ein kleines, aber feines Detail, mit dem die Entwickler unseren Handlungen Gewicht verleihen.
Trotzdem geht die Steuerung hervorragend von der Hand, egal ob wir durch die wunderschönen grünen Hügel reiten oder uns wilde Feuergefechte mit einer verfeindeten Gang liefern. Dank des mehrfach erweiterbaren Dead-Eye-Systems spielen sich die Kämpfe jedenfalls unglaublich intensiv, sogar einzelne Körperteile können wir im Spielverlauf anvisieren.
Neu ist die Möglichkeit, dass wir Schubladen oder Schränke nach interessanten Items oder Wertgegenständen durchsuchen können. Hier hat die etwas überladene Steuerung mit Problemen zu kämpfen, da wir nicht selten fälschlicherweise eine Waffe aufheben, statt den Schrank zu plündern. Die Objekterfassung fällt leider ein wenig hakelig aus.
Es ist allerdings vor allem der Realismus, der Red Dead Redemption 2 aus der Masse herausstechen lässt. So müssen wir beispielsweise regelmäßig essen und schlafen, um bei Kräften zu bleiben. Hier greifen viele kleine, perfekt justierte Zahnräder ineinander, die wir so in noch keinem anderen Spiel gesehen haben und den Western zu einem ganz besonderen Erlebnis machen.




Von Pferden und anderen Tieren
Natürlich dürfen wir auch Tiere jagen, um uns aus ihrem Pelz ein neues Outfit zu schneidern. Doch das tun wir nicht, weil es uns Spaß macht oder weil wir besonders schick aussehen wollen, sondern weil wir in der eisigen Kälte des Hochgebirges schlicht und ergreifend erfrieren würden. Wir jagen nicht, weil es uns Spaß macht, sondern weil wir es müssen, um zu überleben. Sei es wegen der bereits erwähnten Felle oder wegen des Fleisches.
Natürlich spielen in einem Wild West-Titel auch die tierischen Begleiter eine wichtige Rolle. Ganze 19 Pferderassen gibt es im Spiel, die allesamt mit ihren eigenen Stärken und Schwächen aufwarten. Doch die Rösser dienen uns nicht alleine als Fortbewegungsmittel, sondern sind uns mitunter der einzige Freund auf langen Reisen. Dementsprechend wir der Beziehung zum Tier eine ganz besondere Rolle zuteil: Wir können unser Pferd bürsten, müssen es regelmäßig füttern und streicheln.
Dadurch erhöhen wir die Bindung zu unserem Gaul, was uns im Spielverlauf neue Möglichkeiten eröffnet. Besonders tragisch wird es, wenn unser getreuer Freund einmal das Zeitliche segnet: Stirbt unser Pferd, geht es für immer in die ewigen Jagdgründe über. Ein emotionaler Moment.

Technik zum Niederknien
Aus spielerischer Sicht hat Red Dead Redemption 2 also eine Menge zu bieten und liefert sich kaum echte Patzer. Auch die Technik rangiert auf einem enorm hohen Niveau. Jedes Detail am Spiel sieht schlicht hervorragend aus. Seien es die unglaublich detaillierten Landschaften, die wunderschönen Charaktermodelle oder die lebensechten Animationen. Besonders bei der Atmosphäre und Mimik der Figuren setzt das Spiel neue Maßstäbe und markiert die Speerspitze dessen, was PlayStation 4 und Xbox One zu leisten in der Lage sind.
Lediglich ein paar leichte Einbrüche der Bildrate, Pop-Ups und Clipping-Fehler trüben den ansonsten hervorragenden Eindruck. Auch die Vertonung kann vollends überzeugen. Die englischen Sprecher müssen sich selbst vor aktuellen Kino-Blockbustern nicht verstecken, die Waffensounds klingen wuchtig und der dynamische Soundtrack sorgt regelmäßig für Gänsehaut.
Wer der englischen Sprache allerdings nicht mächtig ist, wird zum Lesen der Untertitel verdonnert. Das ist auf dem Rücken des Pferdes oder im Eifer des Gefechts allerdings nicht immer ganz einfach.




Ein neues Spiel vor Rockstar Games ist immer etwas Besonderes und man kann sich sicher sein, dass die Qualität auch stimmt. Im Falle von Red Dead Redemption 2 tut sie das, sehr sogar. Bereits der gelungene Vorgänger konnte mich mit seiner einzigartigen Atmosphäre und den spannenden Missionen fesseln, doch Red Dead Redemption 2 legt noch einmal mehrere Schippen obendrauf.
Egal ob ich der packenden Story folge, im tiefsten Wald eine gesuchten Person aufspüre oder Hasen jage, um meinen knurrenden Magen zu befriedigen: In keinem anderen Open World-Spiel zuvor fühlte ich mich dabei so gut unterhalten.
Es ist ein wahrer Genuss, jeden noch so entlegenen Winkel der detailverliebten und lebendigen Welt zu erkunden und das, ohne dass dabei die Handlung auf der Strecke bleibt. Der Western-Titel liefert einige der stärksten Charaktere der Videospielgeschichte und eine unglaublich packende Story, die mich mit gelungenen Wendungen emotional berührt.
Dass das Ganze dabei auch noch atemberaubend aussieht und hervorragend klingt, ist das Sahnehäubchen auf diesem Meisterwerk, das es mit Leichtigkeit in die Topliste der besten Videospiele aller Zeiten schafft. Ein Meilenstein, den sich niemand entgehen lassen sollte.